Recht nah am Abgrund

Hinweis: Ich bin Rechtsanwalt, aber nicht dein Rechtsanwalt. Dieser Artikel gibt meine Eindrücke und Einschätzungen der Situation zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder. Er ist kein rechtswissenschaftlicher Fachartikel. Er dient nicht der juristischen Beratung. Für Fragen, verbindliche Antworten und Aussagen zu deiner individuellen Situation empfehle ich, dass du dich an eine Rechtsanwältin/einen Rechtsanwalt deines Vertrauens wendest.

Ausschnitt des Bildes "Destruction" aus dem Zyklus "The Course of Empire" von Thomas Cole aus 1836. Der Ausschnitt zeigt eine große steinerne Säule, die in der Mitte abgebrochen ist. An ihrem Fuß liegen die Trümmer.
Destruction (Ausschnitt; aus dem Zyklus “The Course of Empire”); Thomas Cole, 1836. (Quelle; Schutzdauer abgelaufen)

Die österreichische Bundesverfassung (das Bundes-Verfassungsgesetz) wird in wenigen Tagen 100 Jahre alt. Es sieht wie die meisten Verfassungen moderner Demokratien eine Dreiteilung der Staatsgewalt vor:

  1. Legislative: Die gesetzgebende Gewalt schafft jene Normen, an die sich alle am Staat Mitwirkende zu halten haben.
  2. Exekutive: Die gesetzausführende Gewalt setzt die von der Legislative gesetzten Normen um.
  3. Judikative: Die Recht sprechende Gewalt interpretiert die von der Legislative gesetzten Normen in Streitfällen.

Diese Liste ist eine starke Vereinfachung, aber vielleicht ein hilfreicher Anhaltspunkt (hoffentlich zumindest für jene, die die Tätigkeit von uns Jurist_innen als “Spitzfindigkeit” abtun). Für einen Rechtsstaat unabdingbar ist das Legalitätsprinzip:

Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden.

Artikel 18 Absatz 1 Bundes-Verfassungsgesetz

Die Exekutive darf also nur das tun, was ihr die Legislative ausdrücklich erlaubt. (Die Legislative erlaubt der Exekutive aber sehr viel. Die Exekutive darf in gewissen Rahmen sogar allgemeingültige Normen, nämlich Verordnungen, setzen. Verordnungen gelten im Grunde so wie Gesetze, obwohl sie nicht vom Gesetzgeber geschaffen wurden.)

Die COVID-19-Pandemie stellt nun alle Staatsgewalten vor große Schwierigkeiten. Sie zu bewältigen, wäre selbst für besonders gut organisierte Staaten eine große Herausforderung. In Österreich führt sie aber dazu, dass zur Legislative eine zweite normsetzende Staatsgewalt hinzutritt:

Die gesamte staatliche Verwaltung darf

a) auf Grund der Gesetze sowie

b) auf Grund von Ankündigungen, Pressekonferenzen und Tweets der Verwaltung

ausgeübt werden.

Artikel 18 Absatz 1 Bundes-Verfassungsgesetz in der Praxis der österreichischen Verwaltung

Gastro-Gäste-Liste

Aktuellstes Beispiel des grassierenden legistischen Murks ist die von der Verwaltung (der Wiener Landesregierung) gewünschte, angekündigte und offenbar in der Praxis gelebte Registrierungs”pflicht” für Gäste von Gastronomiebetrieben.

Contact-Tracing ist erwiesenermaßen eine sinnvolle Maßnahme, um die Ausbreitung ansteckender Krankheiten wie COVID-19 kontrollieren zu können. Es ist daher grundsätzlich angemessen, dass der Staat dies allgemein vorschreibt. Doch die Stadt Wien geht dabei vor, als wäre das Legalitätsprinzip eine reine Empfehlung wie jene, privat nicht mehr als zehn Personen zusammenzubringen.

Die Verordnung des Magistrats der Stadt Wien, welche nach Ansicht der Stadt vorschreibt, dass “seit 28. September 2020 [.] in Gastronomiebetrieben die Kontaktdaten von Gästen sowie von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern registriert werden [müssen]“, trifft dazu überhaupt keine Aussage.

<Update> 29.09.2020, 16:30: Während auf der verlinkten Seite der Stadt Wien unverändert steht, dass Kontaktdaten “registriert werden [müssen]”, halten die dort wiederum verlinkten FAQ (online ab 29.09. irgendwann untertags) korrekt fest, dass “die Pflicht der GastronomInnen rein darin [besteht], bei einem Auskunftsbegehr der Gesundheitsbehörde auch Auskunft erteilen zu können.” Dass die Stadt hier eine Richtigstellung vornimmt, ist zwar grundsätzlich zu begrüßen. Sie müsste jedoch natürlich überall das Richtige kommunizieren. Widerspruch zwischen zwei direkt verlinkten Seiten der Stadt ist erst recht problematisch.<Ende des Updates>

Unter Berufung auf § 5 Abs 3 Epidemiegesetz schreibt die Verordnung nur vor, dass (unter anderem) “Betriebsstätten der Gastronomie” bestimmte Daten (Vorname, Name [Anmerkung: Der Name enthält auch den Vornamen, so dass der Vorname eigentlich doppelt genannt wird], Telefonnummer, E-Mail-Adresse und Tischnummer) auf Anfrage dem Magistrat übermitteln müssen.

Dabei liegt das erste Problem der Verordnung bereits darin, dass eine “Betriebsstätte” nicht etwas oder jemand ist, der zu irgendetwas verpflichtet werden kann. Eine Betriebsstätte ist nämlich nur “der Standort der Gewerbeberechtigung […], sohin der in der Gewerbeberechtigung angeführte Ort, an dem das Gewerbe (zulässigerweise) ‘ausgeübt’ wird.” (VwGH 22.02.1994, 92/04/0214) Richtigerweise müsste die Verordnung wohl den/die Betreiber_in (eine natürliche oder juristische Person) verpflichten.

Dieses grundsätzliche Problem der Verordnung hat seine Ursache vielleicht darin, dass in ihrer Genese Juristinnen/Juristen wenig bis gar nicht eingebunden wurden oder deren Empfehlungen übergangen wurden. Damit wäre die Stadt Wien nicht allein. Der Gesundheitsminister und sein Ministerium haben sich mit ihrer Verordnungstätigkeit ebenfalls nicht für höhere juristische Weihen empfohlen, nachdem er die vorhersehbar gesetzwidrige COVID-19-Maßnahmenverordnung erließ und um Ostern für Chaos sorgte.

Stadt Wien kommuniziert zu Unrecht

Die Verordnung des Magistrats der Stadt enthält keine Vorschrift, dass “Betriebsstätten” ihre Gäste registrieren müssen. Dessen ungeachtet tun die Stadt Wien, die Sparte Tourismus und Freizeitwirtschaft der Wirtschaftskammer Wien und – soweit ersichtlich – die Medien so, als gäbe es aktuell eine Pflicht, Daten zu erfassen und zu speichern. Je nach Medium gibt es dabei unterschiedliche Angaben, wer dies besorgen müsse: die Gäste? die Betreiber_innen?

Die vom Staat verursachte Verunsicherung ist so groß, dass sich selbst Menschen vom Fach schwer tun. In einem am Nachmittag des 28.09., also 14 Stunden nachdem die vorgebliche “Registrierungspflicht” in Kraft getreten ist, veröffentlichten Kommentar der Wiener Zeitung schreibt eine Rechtsanwältin, dass der Text einer Verordnung zur Registrierung von Gästen “noch nicht” vorläge. Sie scheint dabei davon auszugehen, dass eine bundesweite Pflicht zur Registrierung von Gastdaten angekündigt und vielleicht sogar bereits in Kraft getreten sei. Sie zitiert dabei die “Fachvertretung der Gastronomie der Wirtschaftskammer” und den Informationsdienst des Parlaments, die am Freitag, 25.09.2020 “den Verordnungstext” noch nicht kannten.

Wie auch?

Weder am 25.09.2020 gab es, noch heute, am 29.09. gibt es eine solche bundesweit gültige Verordnung. Dies wurde auch nicht angekündigt; bekannt sind nur Wünsche anderer Landeshauptleute, ähnliche Maßnahmen zu setzen.

Dass das Parlament oder dessen Informationsdienst den Text einer Verordnung nicht kennen, wäre diesem auch dann nicht besonders vorzuwerfen, wenn es ihn überhaupt gäbe. Denn für Verordnungen ist die Verwaltung, also die Exekutive, zuständig, nicht die Legislative. Doch auch die zuständigen Organe wissen selten, was sie eigentlich verordnen. Der zuständige Wiener Stadtrat konnte auf Anfrage keine Auskunft darüber geben, welche Strafe bei Verstößen gegen die neue Verordnung droht. Eigentlich hätte ich erwartet, dass er bzw sein Büro nach über einem halben Jahr Pandemie den § 39 Abs 1 Epidemiegesetz, der für Verstöße gegen Anzeige- oder Meldepflichten eine Geldstrafe bis zu EUR 2.180 vorsieht, zumindest mit einer kurzen Webrecherche finden würden und dies dem anfragendem Medium mitteilen könnten.

Doch dass der Staat (konkret: die Verwaltung) weder der selbstverwaltenden Standesvertretung der Gastronominnen und Gastronomen noch einer Rechtsanwältin klar mitteilen kann, was es mit dieser angeblichen Registrierungspflicht (die keine ist) auf sich hat, zeigt die in Österreich nicht neue, aber durch die COVID-19-Pandemie besonders krass sichtbare Verlotterung der res publica.

Dass nun Gastronominnen und Gastronomen munter Daten ihrer Gäste ohne Rechtsgrundlage erfassen, speichern und für über das Contact Tracing hinausgehende Zwecke verwenden, ist nicht nur im Lichte der Datenschutz-Grundverordnung bedenklich. (In diesem Zusammenhang zweifle ich daran, dass eine Datenverarbeitung auf Grundlage der faktenwidrigen staatlichen Kommunikation, es gäbe eine entsprechende Pflicht, nach Artikel 6 DSGVO jemals rechtmäßig sein könnte).

Dieses Vorgehen zeigt, dass der Staat immer enthemmter agiert. Grundregeln der österreichischen Verfassung und der den Staat, aber nicht die Freiheit beschränkenden Grundordnung werden in Interviews beschworen. Sich daran halten zu halten ist jedoch nur mehr “Spitzfindigkeit”.

Ausschnitt des Bildes "Desolation" aus dem Zyklus "The Course of Empire" von Thomas Cole aus 1836. Der Ausschnitt zeigt eine große steinerne Säule, die in der Mitte abgebrochen ist. Die Säule und sie umgebende Gebäude werden bereits von Pflanzen überwachsen.
Desolation (Ausschnitt; aus dem Zyklus “The Course of Empire”); Thomas Cole, 1836. (Quelle; Schutzdauer abgelaufen)